Hand in Hand

Moonbow 2

Leseprobe:

 

 Mitten in Tag 10

»Augen

View schreckte hoch. Sie knallte mit der Stirn gegen etwas Hartes und sank aufstöhnend zurück. »Verdammter Mist!« Sie rieb sich die schmerzende Stelle und rutschte unter der Sitzbank hervor, bis sie halbwegs aufrecht in dem kleinen Motorboot saß. Ihr T-Shirt klebte am Rücken nass und kühl an ihrer Haut, während ihr Gesicht spannte. Sie blinzelte in die Helligkeit und wagte es, sich vorsichtig umzusehen.

Die Sonne stand schräg am Himmel, es musste früher Morgen sein. Ein lauer Wind wehte ihr um die Nase, obwohl sie sich auf dem offenen Meer befanden. Nach dem intensiven Blick in Stevens Augen war sie offensichtlich vor Erschöpfung eingenickt. Er saß seitlich zu ihr auf der Heckbank, hielt den Hebel zum Steuern des Ruders locker mit einer Hand und sah auf die Strecke, die sie zurückgelegt hatten. Sein beigefarbenes T-Shirt zeigte auf der Wirbelsäule und unter den Armen deutliche feuchte Flecken. View stutzte. Warum fuhren sie überhaupt? Konnte Steven sehen?

Er drehte sich langsam zu ihr um.

Views Impuls, die Augen zu schließen, erlosch, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah, zu dem der eine leicht hochgezogene Mundwinkel einfach nicht passen wollte. War das ein halbes Schmunzeln? Eine unsichere Entschuldigung?

Wie konnte er …? Wieso …? Er fixierte sie, sah sie tatsächlich an. Seine blauen Iris leuchteten.

View sog tief Luft ein und hielt sie an. Sie blinzelte. Träumte sie?

Stevens Mundwinkel zuckten. »Tut mir leid«, sagte er, »aber ich wusste eben, dass ich recht habe.«

View stieß den Atem aus. Die Frage, wie das sein konnte, stellte sich ihr nicht einmal wirklich. Überflüssig. Es lag offenkundig auf der Hand.

Alles Lüge!

Sie hatte Steven nicht erblinden lassen, obwohl sie so lange wie nie zuvor in die Augen eines anderen geblickt und in seine Gedankenwelt eingetaucht war, seine intimsten Seiten erforscht hatte. Hitze wallte in ihr auf. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Gab es Worte für all das?

»Schon gut, View. Ich weiß, wer ich bin und was mich ausmacht, was du gesehen hast. Mach dir keine Gedanken um mich, sondern um dich. Du hast niemals etwas Böses mit deiner Gabe angerichtet und wenn doch, war es nicht deine Entscheidung, sondern man hat dich dazu gebracht. Vielleicht fällt es dir nun leichter, zu dir zurückzufinden. Ich hoffe es.«

View nickte nur. Sie fühlte sich seltsam. Irgendwie blieb der Schock über die Erkenntnis aus, als wenn sie nie wirklich daran geglaubt hätte, dass sie jemanden erblinden lassen konnte. Auch wenn ihr Star Mr. Night und der Bettler William und die anderen … Genau genommen hatte sie die anderen Probanden alle nicht gesehen. Von Mr. Night’s Erblindung, mit der alles begonnen hatte, hatte man ihr nur berichtet. View hatte nie wahrhaftig gesehen, dass er sein Augenlicht verloren hatte. Wie auch? Sie war sofort weggesperrt worden, um nicht noch mehr Schaden anzurichten. Sie hatte es nur vermutet, anhand der Aussagen anderer, und die Schuld tief in sich gefühlt.

Aber was war mit William? Hatte er ihr im Labor lediglich vorgespielt, nicht mehr sehen zu können? Sein grässlicher Schrei wie der einer gequälten Katze gellte ihr immer noch in den Ohren. Sie hatte seine Panik gesehen und war ihm später auf dem Parkplatz vor dem Museum und Starbucks begegnet, wo er blind umhergeschlurft war.

»View?« Steven reichte ihr eine Wasserflasche.

»Danke.« Gierig trank sie den halben Inhalt leer und gab sie ihm zurück. Sie blickte unsicher auf. Seine blauen Augen musterten sie voller Traurigkeit, Besorgnis, aber auch mit Bewunderung. Sie verlor sich nicht in seinem Blick, sie sah ihn einfach nur an. Erleichterung dämpfte ihre Furcht. Konnte sie womöglich wie ein ganz normaler Mensch leben und ein ganz normales Leben führen?

Der wundervolle Moment verging viel zu schnell. Sie hätte ihm ewig ins Gesicht sehen, seine aussagestarke Mimik und seinen Wimpernschlag beobachten können. Würde sich das jemals wieder ändern? Wenn sie sehen durfte, ihr Augenlicht wiederhatte, obwohl sie es niemals verloren, andere es ihr genommen hatten, würde dann jeder Blick immer etwas Besonderes bleiben?

»So«, Steven atmete tief ein, kontrollierte, ob sie sich auf Kurs befanden, und blickte sie erneut an, »und nun, wo, wir die Hürde des Misstrauens übersprungen haben, sag mir endlich, wo Zac ist.«

O nein, wollte sie schreien, aber sie brachte es nicht übers Herz, Steven weiterhin zu belügen und ihn hinzuhalten. Sie benötigte einige Anläufe, um ihm zu berichten, dass Zac doch mit ins Motorboot gestiegen und auf dem Weg zu ihm von Bord gefallen war. »Ich habe gesucht und nach ihm getaucht, gerufen, gefleht und gebetet, doch er war längst untergegangen.« Sie schniefte. »Es tut mir unendlich leid. Ich konnte ihn nicht mehr finden«, entschuldigte sich View nach einer Weile des Schweigens. Seit dem ersten Wort liefen ihr ununterbrochen die Tränen. Unmöglich, sie zu stoppen. Warum auch? Es war unendlich traurig, tragisch. Ausgeschlossen, nicht zu weinen und zu trauern.

»View?«

»Hm?«

»Wie lange wart ihr unterwegs?«

»Ich … ähm. Was?«

»Der Ausbruch aus dem Labor, durch den Wald, das Hotel bis zum Hafen. Wie lange?«

»Ich verstehe nicht.« View sah auf. Vor Scham, dass sie Zac nicht hatte retten können, hatte sie die ganze Zeit den Blick gesenkt gehalten, eine kleine Pfütze aus Meerwasser auf dem Glasfaserrumpf des Bootes fixiert. Steven wirkte nicht, als hätte sie ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie hatte zwar anfangs seinen Schock verspürt, aber dann vermutet, dass er als Mann seine Gefühle tief vor ihr verbarg. Seine Stirn lag in Falten. Er dachte angestrengt nach oder er glaubte ihr mal wieder nicht. Wahrscheinlich beides. Wie konnte er über den Tod seines Sohnes hinweggehen? »Was habe ich nun schon wieder Dämliches gemacht oder gesagt? Verdammt!«

Steven schüttelte den Kopf, sah sie nur fragend an.

»Himmel, ich sage dir, dein Sohn ist tot, und du, du … Ach verdammt, es waren ungefähr sieben Tage. Ändert es was?«

»Du hast ihn niemals berührt?«

»Nein, habe ich nicht.« Was zum …?

»Du hast nur mit ihm gesprochen.«

»Ja!«

»Hat er sich am Ende eurer Reise verändert oder anders verhalten?«

View atmete tief aus. »Ja, irgendwie schon.«

»Was war anders?«

»Er wirkte sehr unkonzentriert, beinahe, als wäre er ab und zu weggetreten. Er hatte viel zu wenig gegessen, geschlafen und getrunken. Es war extrem anstrengend auf der Flucht. Er hat ständig auf mich aufgepasst und musste mir den Weg beschreiben.«

»Du hast nicht gehört, wie er ins Wasser fiel.«

Das war eindeutig keine Frage. »Nein, er war einfach …«

»Weg. Verschwunden«, sagte Steven aufgeregt. Seine Stimme kratzte über die Silben. »Was sagte Zac als Allerletztes zu dir? Was?«

»O Gott, das weiß ich doch jetzt nicht mehr. Ich bin im Wasser nach dem Unwetter fast gestorben, ich habe keine Ahnung, ich habe ihn stundenlang verzweifelt im schwarzen Ozean gesucht. Er ist tot.« View schluchzte auf, sah aber Stevens nach wie vor entschlossenen Gesichtsausdruck. Er würde die Frage unablässig wiederholen, wenn sie sich nicht wirklich um eine Antwort bemühte. Sie schürzte die Lippen und versetzte sich an den schlimmen Tag zurück, als sie Zac für immer verloren hatte. Es gelang ihr überraschenderweise sogar, als hätte sich dieser Moment wie ein gespeicherter Film eingeprägt.

»Zac?«

»Ja?«

»Ich hab dich was gefragt. Was ist los?«

»Nichts, verdammt!«

»Warum benimmst du dich dann so seltsam? Bitte, erzähl doch endlich!«

Er seufzte schwer. Stille … »Damn!«

»Bitte?«

»Sie … sie haben mich durchschaut …«

»Ich hole uns etwas Wasser.«

»Warte, View! Ich muss dir erst alles erzählen.«

»Gleich, erst trinkst du was.«

»Steven, du musst … zur Insel.«

»Ja, Moment!«

»View …« Eher ein Rauschen des Windes als ein gesprochenes Wort.

View öffnete die Augen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie sie geschlossen hatte.

Steven liefen nun doch die Tränen über die unrasierten Wangen. »Er hat dich zu mir gebracht.«

View nickte. »Ja, fast.«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, du verstehst nicht. Zac hat deinen Körper gebraucht, um auszubrechen und um mir zu erzählen, was passiert ist, wo er sich befindet und wie ich ihn retten kann. Er lebt!« Steven sprang auf und brachte das Boot beinahe zum Kentern. Ty krächzte heiser. View blieb beinahe das Herz stehen, als Steven sie hochhob und stürmisch umarmte. »Er lebt. Mein Sohn lebt! View, Ty! Mein Zachary lebt!«

View wollte sich mit Steven freuen, aber eigentlich hielt sie ihn gerade für völlig durchgeknallt und verstand überhaupt nichts. Alles, was er sagte, ergab keinerlei Sinn.

Erst nach einer Weile beruhigte sich Steven. Er wischte sich über das Gesicht und strahlte. »Ich erkläre es dir in Ruhe.«

»Ich bin gespannt.«

»Zac verschwand vor zwei Jahren, als er neunzehn Jahre alt war. Er hat anscheinend nicht nur die Gabe seiner Mutter Layla, sondern auch die weitaus extremere Form seiner Großmutter Loretta übertragen bekommen. Als Taktiler ist es ihm nicht nur möglich, endlos viel durch passive Wahrnehmung zu fühlen, sondern auch durch seine Tiefensensibilität in andere Menschen einzudringen. Ähnlich wie du es kannst, View. Dein Medium sind die Augen. Zacs ist der Körper, die Haut. Es hört sich wie Science-Fiction oder Zauberei an, aber wer sollte mir glauben, wenn nicht du?«

View nickte wieder, obwohl sie nicht ganz erfassen konnte, was sie erzählt bekam. Zac sollte nicht da gewesen sein? Sie war die gesamte Zeit über völlig allein unterwegs? Zac hatte sie nicht begleitet? Das konnte nicht sein. Wie war das möglich? Er war doch bei ihr gewesen.

Oder etwa nicht?

»Du hast seine Stimme gehört, aber ihn nie gesehen. Niemals gespürt. Er hat dich begleitet, aber nicht mit seinem Körper. Er befand sich bei dir, in deiner Aura. Ist dir das nie aufgefallen?«

»Nein«, flüsterte sie, auch wenn sich leichte Zweifel einschlichen. »Ab und zu vielleicht habe ich mich gewundert, doch damit konnte ich ja nicht rechnen. Wenn du jemanden hörst und er sieht, wo du bist, er dir die Umgebung genau beschreibt, dann ist er auch da.« Ihr schwirrte der Kopf. »Es haben uns schon einige angesprochen, aber das hätte Einzahl und Mehrzahl sein können. Ich dachte einfach an Zufall oder an Unhöflichkeit.« Jetzt fielen ihr noch mehr Gegebenheiten ein. »Zac hat sich stets verdrückt, wenn es um Gespräche mit anderen ging. Er sagte oft nichts, unterstützte mich selten. Er log mich sogar an, weil ich natürlich bemerkt habe, dass er keine Geräusche verursacht. Er versicherte mir, das wäre seine Gabe. Und er hat sich herausgeredet, wenn er mir weder eine Tür aufmachte noch aufhalf noch das Boot selbst steuerte. Es ginge alles angeblich nicht.« Himmel! War es wirklich so offensichtlich gewesen? Hatte sie sich so sehr in die Irre führen lassen?

»Es ist auch ein neuer Gedanke für mich, View. Wie bei Zac gibt es wohl auch bei dir alle sieben Jahre einen Schub. Er muss diese Besonderheit mit einundzwanzig entwickelt haben. Von Layla weiß ich, dass ihre Mutter Loretta, sobald sie einschlief, den besetzten Körper automatisch wieder verließ. Zac könnte entweder das Gespräch damals mitbekommen haben oder er hat im Labor irgendwie von seinen neuen Fähigkeiten erfahren. Wie auch immer. Er muss sich vorgenommen haben, auf diese Weise aus dem Labor zu fliehen. Er wollte Hilfe holen. Bestimmt hatte er gehofft, in einem Mitarbeiter zu landen. Mit dir als Mitgefangene an diesem fürchterlichen Ort hat er wohl nicht gerechnet. Aber er musste den Moment nutzen. Es war wohl seine einzige Chance.«

»Und das hat er. Er hat mich förmlich an der Nase herumgeführt, aus dem Labor und weiter und immer weiter.«

»Bis zu mir.«

»Ja.«

Steven räusperte sich. »Wohl zu der einzigen Person, die Zac kannte, die ihm, also dir, diese für jeden anderen vollkommen unglaubwürdige Geschichte schnell genug geglaubt hätte.«

»Weshalb der Zeitdruck?«

»Weil er in seinen Körper zurückgleitet, wenn er einschläft.«

View benötigte eine Weile, um all das zu verdauen. Zac lebte und hatte sie nicht begleitet. Es klang zu verrückt, um wahr zu sein, doch sie war der lebende Beweis, dass diese übernatürlichen Fähigkeiten existierten. Es gab in diesem Fall keinen Zweifel. Zac war, was sie war. Wie er es bei den Pferden am Hotel treffend gesagt hatte. Würde sie an ihm zweifeln, so auch an ihrem Dasein. Und wer stellte schon seine eigene Existenz infrage? »Deshalb hat sich Zac auch dermaßen gefreut, als er bemerkte, dass wir in Vancouver sind. Er wusste bis dahin nicht, dass er sich immer noch in Kanada befand, und hatte befürchtet, vielleicht weit weg von dir am anderen Ende der Welt zu sein.«

»Dann wäre es fast unmöglich gewesen, mich innerhalb von nur wenigen Tagen zu finden.«

»Es waren sieben Tage.« Sie stutzte. »Sieben Tage? Er hat sich sieben Nächte und Tage wachgehalten? Das ist …«

»Unglaublich, nicht wahr?«, flüsterte Steven. Sie hörte ihm seinen Stolz, aber auch seine Angst um seinen Sohn an.

»O Gott!«

»Was?«, brummte Steven, dem anzumerken war, dass er jetzt keinerlei Schreckensnachrichten mehr hören wollte.

»Zac! Er ist nun wieder im Labor. Sie wissen vermutlich, was er durch seine Gabe kann. Dann wissen sie auch, dass er mit mir unterwegs war, dass er es mir ermöglicht hat, zu fliehen.« Ihre Stimme brach. Der Schock fraß sich wie ein Geschwür durch ihre Eingeweide. »Sie werden ihm wehtun.« Und das, wo er so empfindlich war, wo ein Schlag ihn vielleicht töten konnte. Ein Schluchzer befreite sich ungewollt, dann konnte sie nicht mehr an sich halten. Er litt Höllenqualen. Sie wusste es, spürte es beinahe. Zac hatte sein Leben riskiert, hatte versucht, sie zu seinem Vater zu bringen und dabei in Kauf genommen, dass sie ihn so oder so wieder in die Hände bekommen würden. Dass Max dann wusste, dass er Schuld an allem trug. »O mein Gott«, würgte sie hervor, als ihr die Bedeutung von Zacs Selbstlosigkeit klar wurde. Er hatte sich von Anfang an für sie und für alle Gefangenen im Labor geopfert. Und wenn Steven mit seinen Vermutungen recht behielt, hatte Zac dies auch zum Wohle der Menschheit getan.

Energisch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Wir müssen ihm helfen«, wisperte sie und sah Steven eindringlich an. »Wir müssen ihn dort herausholen. So schnell wie möglich!«

»Wir sind schon auf dem Weg.«

 

*

 

Die lange Klinge glitt durch den Stoff, Fleisch und Sehnen. Noch einmal griff Bloodhound mit der anderen Hand nach und zog das Messer mit Kraft über … Etwas stimmte nicht. Jede Faser seines Körpers stellte sich auf. Er stach die Klinge in die Mitte von Stevens Rumpf. Keine Geräusche außer dem Ratschen der Baumwolle. An einer anderen Stelle traf die Spitze auf etwas Hartes. Mit einem Ruck riss er die Decke weg.

»Verdammter Mistkerl!«

Warme Steine unter Schichten von Stoffen. Wahrscheinlich aus einem Lagerfeuer. Er wandte sich um und ging zügig in der Düsternis in die Richtung, in der die kleinere Gestalt geschlafen hatte.

Weg. Natürlich.

Er lief geduckt zu seinem Rucksack zurück, setzte das Nachtsichtgerät auf und spurtete durch den Wald. Als sich die dichten Baumkronen am Rande der Insel lichteten, nahte bereits die Dämmerung. Er nahm das Gerät ab, verstaute es und machte sich auf den Weg zu seinem versteckt liegenden Boot.

Es war ihm zumindest ein kleiner Trost, dass er sich in Steven Veil trotz der inzwischen vergangenen Jahre nicht getäuscht hatte. Der Kerl besaß einen wachen Verstand und eine gute Ausbildung im Überlebenstraining. Zudem ein äußerst bemerkenswertes handwerkliches Geschick. Es lag auf der Hand, Fallen aufzustellen, und sich damit hier draußen vor unliebsamen Besuchern zu schützen. Es war offensichtlich, warum er fortwährend hier lebte. Er wartete auf das Unvorstellbare – auf die Rückkehr seiner Frau und seines Sohnes.

Steven Veil war neben Eleonore Mariani eine Herausforderung an sein Können gewesen, als er Steven den Sohn und Eleonore die Enkelin nahm. Die Hartnäckigkeit von Eleonore hatte er mit ihrem Tod erstickt oder eher ersticken müssen. Hätte sie sich wie alle anderen verhalten und sich in ihrer Trauer zurückgezogen, hätte sie nun mit ihrem alten Bullen einen fast glücklichen Lebensabend verbringen können. So blieb nur noch Steven, den es plötzlich wieder in sein altes Leben zurückdrängte. Reichte es ihm denn nicht, nach seiner Frau auch noch seinen Sohn verloren zu haben? Musste er nun auch noch sein Leben riskieren, indem er View zur Seite stand?

Nun, er kannte die Fähigkeiten von Max’ Kindern ja annähernd. Selbst Veil konnte Views besonderem Charme wohl nicht widerstehen und war nun mit ihr auf der Flucht. Steven musste ihn bereits erwartet haben und hatte ihn mit den Steinen abgelenkt. So hatten sie die nötige Zeit für ihre Flucht gehabt. Sehr clever!

Bloodhound sprang auf das Boot, verband die modernste Technik eines Ortungssystems mit seinem Laptop und klappte ihn auf. Nun denn, dann musste er nur noch warten, bis ein Punkt auf dem Wasser erschien. Dies war schließlich eine Insel und eine ziemlich abgelegene noch dazu. Es würden keine zufällig in der Gegend herumschippernden Touristen mehr dazwischenkommen.

Keine Minute später blinkte ein Punkt auf der gegenüberliegenden Seite des Eilands auf. Der Punkt entfernte sich mit sichtlichem Tempo aufs offene Meer hinaus. Bloodhound wollte gerade starten und die Verfolgung aufnehmen, da verharrte der rote Punkt. Was trieben die beiden in dem kleinen Boot? Vielleicht sollte er sie erst einmal weiter beobachten, bevor er zuschlug. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas Lohnenswertes vonstattenging. Er liebte kaum etwas mehr als die Jagd nach einem ernst zu nehmenden Gegner.

 

*

 

Zac war der Mount Everest vom Herzen gefallen, als ihm klar geworden war, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Der wissenschaftliche Assistent Ben hegte gute Absichten. Es war keine Falle von Max Mayderman gewesen, sondern Bens freie Entscheidung, den Machenschaften im geheimen Labor ein Ende zu setzen und Max Mayderman das Handwerk zu legen. Warum Ben in seinen Raum gekommen war, um ihn zu berühren und springen zu lassen, wusste er hingegen nicht. Er vermutete nur, dass Ben das Drama um Views Flucht irgendwie mitbekommen hatte und ebenso Zacs Rolle dabei. Woher sonst sollte der Kumpel von Räusper-Rudolf von ihm wissen? Die beiden hatten bisher nur in Views Abteilung für das Sehen gearbeitet und die fünf Sinne lebten streng separiert. Nur die Untersuchungsräume wurden von allen genutzt. Jeder Sinn hatte einen festen Untersuchungstag. So begegnete niemand dem anderen, wenn alles normal ablief. Zum Glück war vor zehn Tagen nicht alles nach Plan verlaufen, sonst hätte View ihn nicht auf der Trage berührt und er hätte sie wohl niemals kennengelernt.

Er vermisste sie unsäglich, obwohl er versuchte, seine Gefühle für sie zu unterdrücken. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er sie nach dieser Woche niemals wiedersehen würde. Auch der erneute Ausbruch mit Bens Hilfe änderte daran leider überhaupt nichts.

Zac hatte sich bisher völlig still verhalten. Ben sollte den ersten Schritt tun und seine Absichten offenlegen. Hatte Zac sich einmal zu erkennen gegeben, war es zu spät für eine Umkehr. Deshalb ließ er sich Zeit, obwohl er schon bald an seine Grenze stoßen würde. Er war zu schwach, um erneut einige Tage wach zu bleiben. ...