Auge um Auge

Moonbow 1

Leseprobe:

 

Tag 1

»Wenn wir

View wälzte sich auf die andere Seite, aber auch in der Position ließ sich der Albtraum nicht aus ihren Gedanken vertreiben. Er holte sie immer und immer wieder ein. Sie zog die Bettdecke bis zur Nase. Es war warm und gemütlich, bläute sie sich ein, hier war sie sicher.

Vor Jahren hatte sie Piri von diesen wirren Träumen erzählt. Piri hörte ihr zu, stand ihr jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Einen intelligenteren und treueren Freund konnte sie sich nicht wünschen, auch wenn er nur ein Computer war. Piri würde ihr jetzt sicher sagen, dass der kommende Tag gar nicht so schlimm werden würde. Sie kannte das Prozedere in- und auswendig und sie wusste, die Wissenschaftler ergriffen alle Vorsichtsmaßnahmen, damit wirklich niemand mehr durch ihren Blick zu Schaden kam.

View drehte sich auf den Rücken, winkelte die Knie an und zog die weiche Bettdecke bis zu den Hüften von ihrem Oberkörper. Sie starrte an die weiße Decke, die nur matt von einem gelblichen Nachtlicht beleuchtet wurde, lauschte dem gedämpften Summen der Belüftungsanlage. »Piri, bist du wach?«

»Selbstverständlich, View.«

Sie gähnte, stopfte sich das Kissen unter den Hinterkopf und betrachtete das gegenüberstehende Bücherregal, das eine halbe Wandseite ihres geliebten Zimmers einnahm.

»Das habe ich gesehen«, schnurrte Piri in einem liebevollen Ton.

View lächelte. »Entschuldige, aber es ist mitten in der Nacht und ich bin allein. Mich sieht keiner.«

»Und wenn es mal nicht mehr so ist?«, gab Piri zu bedenken.

»Auch wieder wahr.« Ein weiteres Gähnen bemächtigte sich ihrer und dieses Mal nahm sie die Hand vor den Mund. Ob sie wirklich jemals geheilt werden konnte? Ob sie mal irgendwann mit jemandem zusammen sein durfte, ohne ständig in Angst leben zu müssen, anderen unbeabsichtigt zu schaden?

»Ich sehe dir an, was du denkst, View. Sei nicht traurig. Sie werden dich ganz bestimmt hinbekommen. So, und jetzt schlaf noch etwas, damit du morgen ausgeruht bist und deine Augen nicht schon übermüdet sind, bevor du die Tests machst.«

View schloss die Lider und kuschelte sich wieder ein. Piri hatte recht. Es brachte nichts, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die viel Schlauere als sie seit einigen Jahren zu lösen versuchten. Wenn nur der ständig wiederkehrende Albtraum nicht wäre. Jedes Mal sah sie sich, wie sie jemand Fremdem ins Gesicht blickte, direkt in die Augen, und dann … dann geschah nichts weiter. Ihr Traum verblasste. Nein, falsch. Er brach einfach ab. Sicher, weil sie auch jedes Mal den Untersuchungsraum nach dem nötigen Testblick verlassen musste. Zwar versuchte sie, im Halbschlaf den Traum weiterzuträumen, ihn zu einem guten Ende zu führen, aber das war ihr bisher nicht gelungen. Sie kam nicht von der Stelle. Es endete immer im Nichts, obwohl sie doch wusste, was passiert war. Eventuell würde ihr morgen …

»View.«

»Jaja, schon gut«, nuschelte sie, wirklich müde und doch so unendlich aufgewühlt, als würden Tausende Mücken ihre Haut attackieren. Verdrängte sie vielleicht etwas, das sie im Traum quälte?

»Soll ich dich in den Schlaf singen?«

Sie lächelte und drückte ihr Kissen fester an sich. »Ist das inzwischen nicht zu kindisch?«

»Aber nein. Außerdem weißt du, dass du in null Komma nichts eingeschlafen bist, wenn ich einmal loslege.«

Das stimmte. Piri war der beste Sänger, den es gab. View zuckte bei dem Gedanken wie unter einem Stromschlag zusammen, und ein leichter Schweißfilm bildete sich auf ihrer Oberlippe. Vehement verdrängte sie die überwältigend grausame Erinnerung an einen anderen Sänger, so, wie Piri es sie gelehrt hatte. Doch irgendetwas blieb immer zurück. Schuld. Tiefe Schuldgefühle. Traurigkeit und eine sie beherrschende Unsicherheit. Oft haderte sie im Geheimen mit ihrem Schicksal. Piri erklärte ihr immer wieder, dass sie nichts dafürkonnte, dass ihr heiß begehrter Lieblingssänger vor ungefähr vier Jahren in aller Öffentlichkeit wegen ihr erblindet war. Auch nach endlosen Diskussionen wollte sie sich nicht umstimmen oder überzeugen lassen. Piri sagte dies nur, um sie zu beruhigen. Dessen war sie sich bewusst. Aber um nicht länger mit ihrem einzigen Freund zu streiten, hatte sie den Entschluss gefasst, ihre Bedenken für sich zu behalten. Sie war sich einfach sicher, dass die alleinige Schuld für Mr. Nights Erblindung bei ihr lag. In Momenten wie diesen überrollten sie tiefe Einsamkeit und nagende Zweifel. Wäre doch alles nur ein böser Traum.

»Piri, hast du etwas von Mr. Night gehört? Wenn ich mich doch nur entschuldigt hätte. Mit wem war ich dort? Ich …«

»Jetzt ist aber genug«, sagte Piri sanft, jedoch mit dem gewissen Unterton, den er stets einsetzte, wenn sie seiner Meinung nach zu viele Fragen stellte. Piri mochte keine Fragen, außer er stellte sie. Nun ja, er war ja auch ihr Mentor, ihre Familie, ihr Freund, er wusste, was er tat und was gut für sie war. Er war mehr Mensch als Maschine für sie. Wenn sie sich auf eines verlassen konnte, dann auf ihn. Ihren Gefühlen und Gedanken durfte sie scheinbar nicht uneingeschränkt trauen.

Leise begann Piri, mit seiner tiefen Stimme zu singen. Ein spanisches Wiegenlied. Dank Piri verstand sie es sogar, doch irgendwie wollte sich ihr Körper heute nicht entspannen. Unzählige Fragen strömten ihr wie frische Cola durch die Adern in den Kopf. Machten sie kribblig. So drängend und penetrant war es noch nie. Sie verlor den Gesang, starrte an die Zimmerdecke, hörte stattdessen Stimmen, die sie nicht kannte, die sie weder einer Person noch einer Begebenheit zuordnen konnte.

Ein kaum hörbares Zischen erklang, das sie noch niemals vernommen hatte.

Sie öffnete die schweren Lippen, um Piri, der immer noch wundervoll und leise sang, zu fragen, was das gewesen sein könnte, doch im selben Augenblick überrollte sie bleierne Müdigkeit und sie fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

 

»Bist du so weit, View?«

Sie streckte den Rücken und überprüfte den Sitz ihres zu einem dicken Knoten zusammengebundenen Haars. »Ja, bin ich«, sagte sie zu Ben, obwohl sie sich nicht im Mindesten bereit fühlte. »Frühsport absolviert, gefrühstückt, geduscht und angezogen.« Das wollte der Wissenschaftler vor der Tür sicher nicht so genau wissen. Sie rang mit den schon wieder leicht feuchten Händen.

Eine kleine Schublade fuhr neben der einzigen Tür ihres Zimmers nach innen und View entnahm das daumengroße Fläschchen.

»Bitte setz die Linsen ein.«

Beinahe hätte View geseufzt. Sie wusste auch nicht, weshalb ihr der Gang heute so schwerfiel. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf eine der schwarzen, verkehrt herum liegenden Linsen. View entnahm sie dem Reinigungswasser, hob mit der anderen Hand ihr Lid an und setzte die Speziallinsen nacheinander ein.

»Fertig«, murmelte sie und hörte, wie sich der nur von außen zu öffnende Sehschlitz aufschob. Sie trat vor, bis ihre Fingerspitzen die Tür berührten und stellte sich aufrecht hin.

»Sitzen gut. Danke«, sagte Ben.

Views Herz begann schneller zu schlagen, pumpte ihr bis in die Ohren, sodass es dort unangenehm pochte, doch die Tür öffnete sich noch nicht.

»View, dein Computer bleibt aber im Zimmer.«

Verdammt! Wo war sie mit ihren Gedanken? Ja, wo bloß? Rasch nahm sie das dünne Armband ab und legte es auf die Kommode, die rechts neben der Tür stand. »Bis später«, raunte sie Piri zu. Es erfüllte sie stets mit Unbehagen, ihn ablegen zu müssen, ihn nicht bei sich zu wissen, wo er doch sonst immer bei ihr war und ihr Sicherheit gab.

Die Tür rauschte zur Seite. View legte wie jedes Mal ihren Unterarm samt Hand auf den Ärmel des Wissenschaftlers. Bens Größe und damit die Höhe seines angewinkelten Arms hatte sie exakt bemessen, ohne sich vorab dessen bewusst zu sein. Meist wusste sie nicht, wer sie abholte. Es gehörte sich nicht, Fragen an die hart arbeitenden Professoren zu stellen. Bens Namen hatte sie allerdings bei den Untersuchungen aufgeschnappt. Den anderen hatte sie Fantasienamen gegeben, um sie auch mit geschlossenen oder verhüllten Augen zu unterscheiden. Geredet wurde eh nie, wenn sie anwesend war, das verbot die festgeschriebene Vorgehensweise.

Nur einen kannte sie noch mit Vornamen. Max, den Leiter des Labors, Hochsicherheit glaubte sie, der dafür gesorgt hatte, dass sie sofort einen Platz bekommen hatte, obwohl dieser eigentlich für einen Prominenten vorgesehen war. Hier wurden, von allen abgeschirmt, außergewöhnliche Krankheiten untersucht, versucht, die Patienten zu heilen. Doch die Brisanz ihrer Augenerkrankung war Max sofort klar geworden und deshalb hatte er sich für sie eingesetzt. Max’ volltönende Brummstimme hatte sie noch gut im Ohr. Sie verließ sich seit ein paar Jahren notgedrungen auf ihre anderen vier Sinne. In ihrem Zimmer konnte sie sogar unzählige Pirouetten drehen, ohne gegen irgendetwas zu stoßen. Mit eingesetzten Linsen selbstverständlich. Sie hatte hart mit Piri trainiert. Ihr Personalroboter gab einen ausgezeichneten Blindenhund ab.

»So, wir sind da. Setz dich bitte, View. Gleich geht’s los.«

View lächelte. Sie brauchte die Schritte bis zum Labortrakt, in dem sie ständig untersucht wurde, nicht mehr zu zählen, um genau zu wissen, wann sie sich wo befanden. Es kam ihr vor, als würde sie sehen, obwohl es ihr sogar unmöglich war, hell oder dunkel durch die Speziallinsen zu erkennen. Obwohl sie die Linsen zum Schutze aller trug, mied man ihre Nähe. Sie spürte die Blicke im Nacken, die aus sicherer Entfernung auf ihr ruhten. Sie verübelte es niemandem. Keiner sollte je wieder durch sie das Augenlicht verlieren.

 

Die letzte Untersuchung des Tages stand bevor. View gähnte mit vorgehaltener Hand. Die unruhige Nacht forderte ihren Tribut, und obwohl View mit den Füßen wippte, fühlte sie sich ausgelaugt und matt. Ihre Augen brannten unter den Linsen vom ständigen Einsetzen und Rausnehmen, vom ständigen Auf- und Zuklappen, vom ständigen irgendwo Durch- oder Reinsehen, von unzähligen Tropfen. Sogar Nadeln hatten sie heute malträtiert. Sie hatten ihr Blut abgenommen, ihren Urin und die Haare untersucht. View fühlte sich wie jedes Mal absolut durch die Mangel gedreht und als würde sie im Sitzen einschlafen können. Ihre Glieder hingen schwer hinunter und ihre Gedanken wateten in zähem Schlamm. Und doch drängte sich ihr der Traum von vergangener Nacht auf, der immer wiederkehrende. Tränen traten ihr in die wunden Augen und verschlimmerten das Ganze. Sie wollte niemanden verletzen.

Piri hätte nun sanft mit ihr geschimpft. Sie wisse doch, dass Grübeln und Fragen in ihrem Fall nicht helfen.

»View? Kommst du bitte?«

Sie horchte auf. Die Stimme des Laborleiters. Es musste anderthalb Jahre her sein, dass sie sie gehört hatte, aber sie war sich fast sicher, dass er es war. Sie stand auf und begab sich zielbewusst durch eine Tür in einen engen Raum. Der letzte Raum eines jeden Untersuchungstages. Nun war sie überzeugt, dass es Max sein musste, denn die Wissenschaftler begleiteten und führten sie stets durch die Flure, als trauten sie ihr nicht zu, sich blind genauso sicher zu bewegen wie die Sehenden. Max nicht, er ließ sie ihren Weg allein gehen. Schließlich konnte man seine Umgebung doch fühlen. Man brauchte sie nicht zu sehen.

»Die Haltegriffe sind direkt vor dir, View. Alles okay mit dir? Gleich bist du durch für heute.«

Fast hätte sie geantwortet, doch es war natürlich keine wirkliche Frage von Max. Rhetorisch. Die Antwort lautete Nein und das sah man ihr wohl an. Dank Piri wusste sie, wie sie sich zu benehmen hatte. Doch eines brannte ihr wie sengende Kohle auf der Zunge. »Ist eine Besseru…?«

»Du weißt ja, wie es abläuft«, unterbrach Max sie ungehalten, »folge präzise den Anweisungen, sobald ich den Raum verlassen habe.«

Eine Tür rauschte auf und glitt kaum vernehmlich wieder zu. View ließ den Kopf auf die Brust sinken. Sie hätte nicht fragen sollen. Rasch stellte sie sich auf den schmalen Tritt und legte ihre Arme rechts und links auf die Lehnen. Ihr Kinn schob sie in eine dafür vorgesehene Mulde. Dieser Stehplatz war auf ihre Größe positioniert. Eine Apparatur senkte sich mit leisem Summen auf ihren Kopf herab und umschloss ihn. Das fühlte sich unangenehm an, weil die Halterungen einen leichten Druck ausübten, aber es war auszuhalten.

Ein Lautsprecher begann, für ein normales Gehör kaum wahrnehmbar, zu rauschen. »Bitte nimm die Kontaktlinsen heraus.«

View runzelte die Stirn. »Beide?«

»Ja, beide. Bitte.«

Es war das erste Mal, dass sie beide gleichzeitig herausnehmen sollte. Sie tat, wie ihr geheißen. Die Linsen ließ sie in ein bereitgestelltes Gefäß direkt vor der Kinnmulde fallen. Sie blinzelte stark, weil die Helligkeit im Raum ihr in den feuchten Augen brannte. Lichtblitze tanzten ihr vor dem Gesicht herum. Heute war es besonders schlimm. Sie schloss die Lider, vermisste aber die samtene und heilende Dunkelheit, die ihr die Linsen verschafften. Flink wickelte sie ein bereitliegendes, breites Tuch um den Kopf, legte es über ihre Stirn und band es im Nacken stramm zusammen. Es würde als Sichtschutz dienen, damit sie, ohne jemanden zu gefährden, in ihr Quartier gelangte. Linsen brauchte sie für heute zum Glück nicht nochmals einzusetzen, denn bald durfte sie endlich zurück in ihr geliebtes Zimmer.

»Es geht los, View.«

View zuckte zusammen und stellte sich auf, wie sie sollte. Die Lider fest geschlossen, Kopf und Körper gerade. Ihr Herz begann zu rasen. Es war nötig, Tests mit echten Menschen durchzuführen, an lebenden Augen zu forschen und zu untersuchen, ob die Behandlungen bei ihrem einmaligen Defekt ansprachen, doch es war und blieb grausam. Die Ungewissheit, wie es den Probanden nach ihrem Blick erging, was sie durchlitten oder eben nicht. Es schien das höchste Gebot im gesamten Labor zu sein, sie diesbezüglich nicht aufzuklären. Um sie zu schützen, natürlich. Aber …

Das Zischen einer Tür zur Linken ließ sie wie jedes Mal zusammenfahren. Klirrende Kälte kratzte ihr wie spitze Eiszapfen über das Rückgrat. Mit beiden Augen? Sie wollte doch niemandem schaden. Tränen bildeten sich unter den geschwollenen Lidern und View schluckte hart. Ihr Kehlkopf drückte auf das Gestell und ihr brach der Schweiß aus. Der Albtraum von heute Nacht quälte sie weiterhin, marterte ihr Unterbewusstsein, auch wenn sie nicht daran dachte. Die reine Folter. Wenn dieser Untersuchungstag doch nur bald vorüber wäre.

Sie kniff die Lider fest zusammen, konzentrierte sich darauf, sie geschlossen zu halten, obwohl sie leicht zitterten. Wenigstens war sie vergangene Nacht wieder einmal rasch bei Piris sanftem Gesang eingeschlafen und bis zum Klingeln des Weckers nicht erneut erwacht.

Unsichere Schritte eines Mannes bewegten sich auf sie zu. Er ging, als steckten seine Füße in fremden Schuhen. Turnschuhe mit dicker Sohle, die auf den Fliesen leise knatschten. Ein nervöses Räuspern verriet, dass ihr Visavis Mitte vierzig sein musste, eher schlank als dick, eher ungepflegt, obwohl er penetrant nach Seife duftete, als hätte er ein stundenlanges Duftbad genommen. Er fuhr sich durch längeres Haar, es knisterte kaum vernehmlich, als wäre er statisch aufgeladen, und stellte sich in das Gestell ihr gegenüber.

»Legen Sie bitte das Kinn in die Mulde und greifen Sie nach den Halterungen.«

Der Mann folgte zögerlich den Anweisungen. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er keine Angst zu haben brauche, dass alles gleich vorüber sei, doch sie schwieg. Sie wollte ihm ein aufmunterndes Lächeln schenken, schließlich sah er sie ja, aber ihre Mimik ließ sich dazu nicht überreden. Zu tief saß die Furcht.

Auch bei dem Mann senkte sich eine Apparatur hinunter auf seinen Kopf und verankerte sich. Ein unterdrücktes Ausatmen, wie sie es alle taten, obwohl die Wissenschaftler die Probanden sicherlich ausführlich auf die Prozedur vorbereiteten. Pfefferminzzahnpasta auf abgenutzten Zähnen mit einem verblassten Hauch Zigarette.

»So, View, konzentrier dich bitte. Und Mister, hören Sie bitte auf, zu blinzeln. View, wenn du so weit bist, kannst du loslegen, wir empfangen Daten. Bitte.«

Trotz der höflichen Worte, heute von Max durch die Lautsprecher gesprochen, hörte sie Ungeduld heraus. Möglicherweise machte er sich genauso wie sie Sorgen, weil sie seit Jahren kaum Fortschritte erzielten. Ihre Fragen, wer ihren Aufenthalt finanzierte, wie lange sie noch bleiben musste oder durfte und ob es Fortschritte bei der Heilung gab, beantwortete ihr niemand zu ihrer Zufriedenheit. Vielleicht konnten sie es nicht. Vielleicht wollte man sie nicht entmutigen, weil es tatsächlich nicht die erhofften Erkenntnisse gab. Hing es von ihr ab, wie gut sie ihre Aufgaben erledigte?

View öffnete bedächtig die Augen.

Ihr Blick schärfte sich nur langsam. Das frisch rasierte Gesicht des älteren Mannes verschwamm. Wie ferngesteuert richtete sie ihren Fokus auf beide Augen gleichzeitig. Das Bild verwischte zuerst, kam näher und das Unscharfe setzte sich klar als ein Auge zusammen, als hätte er nur eines in der Gesichtsmitte. Die graublauen Pigmente offenbarten ihr das Universum des Mannes. Die Farben pulsierten wie die schwarze Pupille, als sie hineingezogen wurde in die Unendlichkeit und tief in die Seele ihres Gegenübers abtauchte.

 

*

 

»Ich werde verdammt noch mal nicht mehr mitspielen. Lasst mich endlich in Frieden!«

Zac drohte der geschlossenen Tür mit der bloßen Faust. Alle Gegenstände wie Blumentöpfe, Stühle und Bücher, die er als Abwehrmittel oder Waffe verwendet hatte, hatten sie längst aus seinem Zimmer entfernt. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinem Körper zu drohen, den er seit den ersten Vorfällen und seitdem sein Gehirn wieder an der richtigen Stelle eingerastet war, in jeder freien Minute stählte. Viel Freizeit gestanden sie ihm nicht zu, dafür sorgte das bescheuerte Hologramm, das er um das Handgelenk tragen musste und das ihm Aufgaben zuteilte. Wenn er es abnahm, straften sie ihn mit Essensentzug oder betäubten ihn, um es ihm, sicherlich mit Spezialhandschuhen, wieder stramm umzubinden. Sie hatten schon in Erwägung gezogen, es ihm unter die Haut zu implantieren, doch dann davon abgesehen, wie er zufällig mitbekommen hatte.

Ein zorniges Grinsen überflog sein Gesicht, das er bis in die Haarwurzeln verspürte. Sein einziger Schutz bestand darin, dass sie wussten, wer und was er war. Sie würden ihn niemals brechen, sie konnten ihn nur zwingen.

»Touch, bitte beruhigen Sie sich doch. Ihr Verhalten bringt doch nichts.«

Oh, jetzt versuchten sie es auf die nette Art. Sein nerviger personaler Roboter duzte ihn, obwohl er bereits bei seiner Entführung längst volljährig gewesen war. »Kommt doch rein und holt mich!« Seine Wut über die angesetzte, millionste Untersuchung unter Vollnarkose verblasste allmählich. Sie würden ihn ja doch dazu kriegen. Wenn nicht mit Worten, dann notfalls durch eine Betäubung. Er fuhr sich über das Gesicht und ließ den Kopf hängen. Damn! Er wusste jetzt schon, dass ihm hinterher wieder kotzübel sein würde, wenn er erst eine Gasbetäubung und danach eine Narkose verkraften musste.

»Touch, bitte«, mischte sich nun auch noch der Computer ein, »bitte versuch doch, uns zu vertrauen. Wir wollen doch nur dein Bestes. Wir wollen dich von deiner Krank…«

»Ich weiß«, unterbrach er ihn barsch. Sie wollten testen, was er auf dem Kasten hatte, obwohl sie es längst wussten. Jede verfluchte Woche eine Untersuchung seiner Haut – seit über zwei Jahren. Warum ließen sie ihn nicht endlich wieder frei oder murksten ihn ab und verscharrten seine Reste unter dem stinkenden Unrat einer Müllkippe?

Er stemmte die Fäuste in die Hüften und richtete sich auf. »Okay, okay. Ich hab mich wieder eingekriegt, werde brav sein und mich nicht zur Wehr setzen. Okay?«

»Darf ich Ihnen trauen?«, fragte der männliche Assistent vor der Tür.

Zac lachte auf. »Nein, natürlich nicht.« Er schloss entnervt die Augen. Sein Kiefer schmerzte, weil er die Zähne so fest aufeinanderbiss. Seine Nase zuckte vor unbändigem Zorn. Er ritt sich nur wieder hinein. Mühsam zwang er sich, die Schultern zu lockern und legte ein Lächeln auf, er wusste ja, dass sie ihn sahen, immer und zu jeder Zeit. »Okay, nun aber. Kann losgehen.«

Anstatt einer Antwort oder dem Öffnen der Tür hörte er ein kaum wahrnehmbares Zischen. Der Gedanke, dass er sich später wieder einmal einen ganzen Tag lang saumies fühlen würde, war das Letzte, was er dachte, bevor er auf dem Boden zusammensank wie niedergeschlagen.

 

*

 

»Danke, View.«

Irgendetwas war anders.

Als würde sie aus einem Traum erwachen, kam View sehr langsam zu sich. Die festen Sensoren um ihren Kopf lösten sich und gleichzeitig fuhr das Gestell, auf dem sie stand, mit ihr rückwärts. Wie jedes Mal.

»Augen zu, View!«

View erhaschte einen letzten Blick auf das leicht verschwommene Gesicht des älteren Mannes und senkte dankbar die Lider. Ihr Gehirn schien zu kochen, Tränen liefen ihr über die Wangen. Es würde sie nicht wundern, wenn sie aus Blut wären, so sehr schmerzten ihre Augäpfel. Ihre Lider zitterten vor Überanstrengung und kratzten rau über ihre Hornhäute. Dieser Tag war einfach zu viel.

Ein entsetztes Stöhnen fuhr ihr durch Mark und Bein. Aus Reflex riss sie die Augen auf. Sie wusste, dass es ihr verboten war, doch bei dem Anblick des Mannes war es ihr unmöglich, wegzusehen. Seine Gesichtsmuskeln verzerrten sich, seine Finger krallten sich in die Schläfen, dann stieß er den grauenvollsten Schrei aus, den View jemals gehört hatte. Bis zu Tode gequälte Katzen schrien so.

Ein aufgebrachtes Stimmengewirr drang aus dem Lautsprecher, doch zu chaotisch, um etwas zu verstehen. View sprang geschockt von dem rückwärtsfahrenden Gestell, bevor es durch die offene Tür in einen separaten Raum gleiten konnte. Sie rannte an dem brüllenden und jammernden Mann vorbei und riss eine Tür auf.

View spurtete los über den Gang. Nur weg von dem Gräuel, nur weg vor dem, was sie angerichtet hatte. Sie presste die Lider zu und zog das Tuch von der Stirn vor die Augen. Angst, pure Angst schüttelte sie, zerfetzte ihr donnerndes Herz in Splitter. Sie bog links ab und rannte über den Flur, als würden Höllenwesen sie gnadenlos verfolgen. Dabei waren es nur die Assistenten, die ihr nachriefen, sie solle stehen bleiben. Rechts und wieder lin…

Brutal prallte sie gegen eine Wand und strauchelte zurück. Schmerz durchzuckte sie. Sie schmeckte Blut. Es drehte sich alles, doch sie stolperte blindlings weiter. Ihr Unterbewusstsein sagte ihr, dass sie normalerweise gesittet die Flure entlangging und nicht mit weit ausholenden Schritten hinunterpreschte. Die Anzahl der Schritte passte nicht.

Ein gedämpfter Alarm heulte los und fuhr ihr wie ein Todesstoß in den Leib. Wegen ihr? Ihre Schritte verlangsamten sich. Gott, o Gott, was hatte sie getan? Verflucht, was fragte sie? Sie wusste es doch. Panisch keuchte sie auf. Ihr Herz wollte vor Scham zerspringen. Oder war es das schon? Sie hatte dem Mann das Augenlicht geraubt. Sie! Sie stolperte, fing sich und bog nochmals ab. Entfernte Stimmen wurden lauter, drangen durch den Alarm. ...