Kein Millionär für mich

Gefährliche Hingabe 1

Leseprobe:

 

Kapitel 1

»Miss, aufwachen!«

Wenn ich mich nicht so schrecklich schwerfällig gefühlt hätte, hätte ich der drängenden Stimme nachgegeben. Aber ich blieb lieber noch still liegen.

»Hallo?«

Ein angenehmes Rauschen hüllte mich ein, trug mich wieder fort von den dumpfen Schmerzen in meinem Schädel.

»Bitte, Miss. Kommen Sie zu sich!«

Ach herrje. Dieser anregend rauchige Bariton bettelte. Der Barmann von letzter Nacht? Ellie und ich mussten es gestern Abend mit den leckeren Australian Golds übertrieben haben, sonst würde ich mich nicht fühlen wie eine Mango nach einer Runde im Mixer.

»Wenn Sie nicht endlich reagieren, werde ich Sie ohrfeigen.«

Bitte, bitte. Ich stand zwar nicht sonderlich darauf, wenn ein Mann … Moment mal! Hatte er oder wer auch immer mich geschlagen? Meine Schmerzen traten mit aller Macht in den Vordergrund und trieben mir undamenhaft ein Stöhnen über die Lippen.

»Gott sei Dank.«

Ich versuchte zu blinzeln, was einen Donnerhall in meinem Kopf hervorrief.

»Wie geht es Ihnen?«

Verdammt, die Cocktails hatten mich völlig ausgeknockt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

»Miss?«

Etwas strich über meine Stirn. Ich zuckte zusammen, wimmerte. Immer heftiger spürte ich meinen Körper aus einer fürchterlichen, aber schützenden Starre erwachen.

»Gleich wird es besser. Ich habe Wasser. Nicht erschrecken.«

Ein Tropfen platschte mir auf die Stirn. Das intensive Echo schallte durch das nicht enden wollende Rauschen in meinem Kopf.

»Halten Sie die Augen geschlossen.«

Wasser rann mir über die Stirn. Salzwasser! Welcher verdammte Idiot verwendete Salzwasser, um Augen zu reinigen? Finger strichen mit dem Wasserfluss. Sanft, aber es kratzte, als würde Diamantenstaub mir die Lider tätowieren. »Auuu. Verfluchte Sch…« Eine gewaltige Fontäne schoss meine Speiseröhre empor wie bei einem Geysirausbruch.

Kräftige Hände zogen mich ruckartig zur Seite. Als hätte ich ein Fass mit Salzwasser eingetrichtert bekommen, explodierte mein Inneres und ergoss sich aus Mund und Nase. Selbst aus meinen Augen schien flammendes Wasser zu laufen. Alles brannte. Ich brannte, spuckte und röchelte.

Nach einigen freien Atemzügen blinzelte ich. Ein Paar Knie in Jeans drückten sich vor meinem Gesicht in … Sand? An ihnen sammelte sich mein erbrochenes Wasser. Mir kam es gleich nochmals hoch. Ich hatte nicht einmal Zeit, im Boden zu versinken, weil mir alles so unendlich unangenehm war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit legten mich die starken Arme behutsam zurück auf den Rücken. Hände stützten meinen Kopf, bis er zu liegen kam.

»Besser?«

Warum nur kam mir diese angenehm tiefe Stimme nicht bekannt vor? Ruhig, melodisch, vertrauenerweckend. Der Schwindel verebbte ein wenig, und langsam begann mein Gehirn endlich wieder mit der Arbeit. Salzwasser, Sand … War ich doch noch auf der traumhaften Insel, deren Name mir nicht einfallen wollte? Irgendwie hatte ich gedacht, ich wäre mit Ellie bereits im Boot auf dem Heimweg nach England.

Ich blinzelte erneut. Diesmal energischer. Helligkeit blitzte unangenehm zwischen dem Spalt hindurch und stach mir in die höllisch brennenden Augen. Ich atmete tief durch.

Ein Schatten schob sich vor das grelle Licht. Ein breiter Oberkörper. Zotteliges Haar. Ich sah alles nur durch einen Tränenschimmer. Kein Wunder. Langsam dämmerte mir, dass ich in der vergangenen Nacht am Strand in Ohnmacht gefallen sein musste. Meine Haut spannte wie Leder. Und der Strandwart oder wie die sportlichen Typen auch hießen, die morgens den Strand aufräumten, hatte nun seine liebe Mühe, mich wach und wegzubekommen. Wie peinlich. »Nie wieder Alkohol«, nuschelte ich.

Ein Mundwinkel hob sich in dem verschwommenen Gesicht und senkte sich gleich wieder. Kein Wunder, ich hatte ihn soeben königlich angekotzt. Allmählich sollte ich mal wieder richtig zu mir kommen. Ich wollte meinen Arm heben, um mir über das Gesicht zu streichen und mich aufzustützen, doch der gehorchte mir nicht. So etwas kann einem ziemlich schockartig Angst einjagen. Ein alienhaftes Gurgeln kam aus mir und mit ihm nochmals ein Schwall loderndes Wasser.

Erneut half der Fremde mir, mich um gefühlt einige Liter Wasser zu erleichtern und bettete mich vorsichtig zurück auf den nassen Sand. Ich bekam kaum Luft, brauchte einige Atemzüge, um mich zu beruhigen.

»Alles ist gut. Wir haben es überstanden. Kein Grund zur Panik. Das wird schon wieder.«

Was zum Teufel redete er da? »Ich …« Als hätte sein seltsam ruhiges Gequatsche mich wachgerüttelt, nahm ich plötzlich die Welt um mich herum ebenso deutlich wahr wie sein Gesicht. Die Schrammen, überall. Ein Schnitt auf seiner Stirn, der leicht blutete oder geblutet hatte. Ein Rinnsal verlief über eine Schläfe. Ruß schwärzte seine Fünftagebart-Wangen und seine Nase, ließ sein Haar zu Berge stehen. Ein beißender Brandgeruch lag in der Luft.

Mit einem Mal war alles wieder da.

Ein Knall. Ohrenbetäubend. Das plötzliche Rütteln der Maschine. Sauerstoffmasken, die herabfielen. Das magenumdrehende Absacken. Die unterdrückten Rufe, unendliche, schrille Schreie. Alles verdrängende Todespanik. Verwirrung. Schmerz. Dann – Stille.

Ich begann, unkontrolliert zu zittern. »Ellie?«

Er legte seine Hände sanft an meine feuchten Wangen, strich mit den Daumen die Tränen fort. »Es ist überstanden, alles gut.«

»Wo ist Ellie?«, brachte ich mühsam hervor. Ob er mich überhaupt verstand? In meinen Ohren fiepte es noch leise. War das Wasserflugzeug abgestürzt? Das Zittern wollte nicht verebben.

»Ich denke, dass Sie Ihre Freundin meinen, die neben Ihnen gesessen hat, oder? Ich habe sie in den Schatten gezogen. Sie ist immer noch bewusstlos. Es hat Ellie schlimmer erwischt als Sie, aber sie wird es schaffen. Sie hatten Glück, dass Sie bei Bewusstsein waren und es irgendwie bis an den Strand geschafft haben. Wie sind Sie aus dem Flugzeug gekommen?«

In meinem Schädel summte es aufdringlich, als strömte ein Schwarm Bienen angriffslustig aus ihrem geschüttelten Korb.

»Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Ellie, o nein, Ellie«, wisperte ich. Sie war mein Ein und Alles. Freundin, Schwester, Mutter. Mein Halt und Beistand in allen Lebenslagen. Ohne sie … konnte sich die Erde unmöglich weiterdrehen.

»Sie lebt«, sagte er etwas lauter. »Sehen Sie mal zu, dass Sie hochkommen, damit Sie sich um Ellie kümmern können.«

Ich holte stoßartig Atem, blinzelte und leckte mir über die aufgerissenen, salzigen Lippen. Wir waren irgendwo im Nirgendwo gestrandet. O mein Gott.

»Miss, bitte.« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich würde Sie gern aus dem Wasser und aus der Sonne heraus in den Schatten bringen, aber dafür muss ich wissen, ob Sie vielleicht innere Verletzungen haben. Soweit ich es beurteilen kann, haben Sie keine. Ihr rechter Unterarm scheint gebrochen zu sein, ansonsten nur das Übliche. Bitte, sprechen Sie mit mir.«

Ansonsten nur das Übliche? Mein Magen drehte sich schon wieder, doch ich zwang mich, ihn zu ignorieren. Der Kerl hatte recht. Wo war links, wo rechts? Zaghaft bewegte ich den Zeigefinger meiner linken Hand. Steif, aber in Ordnung.

»Sehr gut, jetzt den Arm.«

Ich folgte wie ferngesteuert seinen aufmunternden Worten, spreizte die Finger, hob den Arm an. Es hingen Tonnen daran, aber er gehorchte mir. Ich seufzte erleichtert und tastete mir über das Gesicht. Getrocknetes Salz, einige brennende Wunden, sicherlich auch Blutkrusten, Sand.

»Das wird alles verheilen«, murmelte er.

Als wenn das nun wichtig wäre. Ich befreite meine Lider beinahe ruppig von den festen Krusten und öffnete endlich beide Augen. Meine Handkante legte ich mir auf die Stirn, um die Sonne abzuschirmen, die heiß auf mich herabbrannte.

Er runzelte die verletzte Stirn, legte den Kopf fragend schräg und schob sich erneut vor das gleißende Licht. »Alles okay?«, fragte er fast zärtlich.

Nein, natürlich nicht. Nichts war und würde wieder okay sein. »Ja«, krächzte ich heiser und räusperte mich. Großer Fehler. Sand und Salz kratzten über meine wunde Kehle. Ich räusperte mich noch einmal. »Wo ist Ellie?«

Er zeigte hinter sich, weg vom Meer. »Im Schatten. Und da bringe ich Sie jetzt auch hin.«

Seine Finger kamen auf mein Gesicht zu, teilten meine Lippen und etwas fiel mir tief in den Hals. Reflexartig schluckte, würgte und hustete ich fast gleichzeitig. Ich rang nach Luft. »Was …?«

»Gegen Infektionen und Ihre Schmerzen«, sagte er.

Frech! Aber … »Danke.«

»Haben Sie innere Verletzungen? Versuchen Sie, in Ihren Körper zu hören. Weitere Brüche? Schmerzen im Herzen, den Lungen? Können Sie durchatmen? Was ist mit Ihren Beinen?«

»Wer sind Sie?«

Er seufzte, halb genervt, halb todmüde. Seltsame Mischung. Erneut fuhr er sich durchs Haar. Oder strich er sich über die Stirn? Meine Sicht war immer noch miserabel.

»Mein Name ist Jayden Parker. Ich war mit Ihnen in dem Flugzeug.«

Rein logisch betrachtet machte es keinerlei Unterschied, ob ich seinen Namen kannte oder nicht, doch in dieser Situation erschien es mir einleuchtend, ihm zu vertrauen. Ich musste meine Kräfte sammeln und wie er den anderen helfen. Doch mein Körper wollte einfach nicht so reagieren, wie er sollte.

»Haben Sie keine Angst, sich zu bewegen. Bis auf Ihren rechten Arm wird alles heil sein.« Er beugte sich vor und strich mir über das Haar. »Sie haben einen Schock, deshalb will alles nicht wie sonst. Ich hole Ihnen etwas Trinkwasser.« Er erhob sich.

Stöhnte er auf? »Nein …« Ich erhaschte ihn noch an der nassen Jeans an seiner Wade. Schneller als ich gedacht hätte, zugreifen zu können. »Bitte nicht weggehen. Ich komme mit.«

»Langsam.« Jayden hockte sich wieder zu mir in den Sand und schob eine Hand unter meinen Kopf. Mein brummender Schädel legte sich vertrauensselig in seine große, warme Handfläche. »Setzen Sie sich auf. Ich helfe Ihnen.«

Sein Arm übernahm es fast allein, meinen Oberkörper in die Senkrechte zu bringen. Schmerzen fegten bei der Bewegung durch meinen Unterleib. Ich biss die Zähne zusammen. Sein Bizeps wölbte sich in meinem Rücken. Er setzte sich, drückte mir seinen Unterschenkel gegen die Wirbelsäule und stützte mit der Hand weiterhin meinen Kopf. Ich fühlte mich absolut sicher aufgehoben, obwohl mir schwindelte und kaum einer meiner Muskeln gehorchen wollte. Mein Akku war alle, obwohl ich doch gerade jetzt für Ellie stark sein musste. Ich durfte sie nicht enttäuschen. Sie war immer für mich da.

»Geht’s?« Jayden beobachtete mich mit besorgter Miene.

»Ja, danke«, brachte ich endlich hervor. Jedes Wort kratzte über die Silben, doch ihm ging es wahrscheinlich kaum besser, so grauenhaft, wie sein Gesicht aussah. Blut lief ihm über die Schläfe. Er strich es mit der Handfläche ins Haar, damit es nicht auf mich tropfte. Gott, das hatte er die ganze Zeit schon getan. Bestimmt hatte er eine Platzwunde am Kopf. »Danke für Ihre Hilfe, Jayden.«

Er lächelte kurz.

»Würden Sie mir in den Schatten zu Ellie helfen?« Ich hob den Blick, sah ihm in die Augen. Leider konnte ich die Farbe durch das grelle Gegenlicht nicht erkennen. Die sich unter dem ehemals hellblauen T-Shirt am rechten Oberarm hinaus bis zum Handgelenk schlängelnden Tribal-Tätowierungen allerdings schon. Er war so nah.

»Wenn Sie mir endlich sagen, ob Sie in Ordnung sind. Nicht, dass ich es durch eine Bewegung noch schlimmer mache. Also? Antworten, jetzt.«

In seiner ruhigen Stimme klang eine dringende Schärfe mit, die mich auf inneren Abstand gehen ließ, aber ich musste ihm recht geben. Ich schloss die Augen, bewegte meine Beine, Füße, Zehen. Mein Herz schlug, atmen konnte ich auch. Irgendwie tat alles weh, aber nichts so entsetzlich wie mein rechter Unterarm, der über meinem Bauch lag und den ich auszublenden versuchte. Das Ziehen in meinem Unterleib ignorierte ich. Ellie. Ich musste jetzt zu Ellie. »Gut. Gehen wir.«

Er bewegte sich geschmeidig wie ein Panther vom Sitz in die Hocke, schob seinen linken Arm unter meine Kniekehlen und stemmte sich vorsichtig samt mir hoch.

Mir stockte der Atem. Zum einen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, zum anderen, weil ich mit meiner Größe nicht gerade ein Leichtgewicht war. Ich rutschte mit der Seite an seinen breiten Oberkörper, der mich wie seine kräftigen Arme sicher und mit einer Leichtigkeit trug, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Das weite Shirt verdeckte sicherlich immense Muskeln. Sein Geruch hüllte mich ein. Eine Mischung aus Rauch, verbrannter Haut und seinem Schweiß. Die harte, dominante Realität.

In meinen Ohren knackte es, als hätte ich einen Druckausgleich vorgenommen. Plötzlich konnte ich das Rauschen einordnen. Das Meer. Ich wandte den Blick von seinem zerschundenen Gesicht ab. Der Ozean lag wunderschön und doch unsagbar bedrohlich vor mir. Weit. Blau. Ohne Land in der Ferne. Jayden drehte sich und ging langsam über den breiten hellgelben Sandstrand auf grünes Dickicht zu.

Die schockierende Erkenntnis bahnte sich sofort einen Weg in mein Herz und ließ es schmerzlich schrumpfen. Niemand anderes als Jayden hatte sich bisher um mich gekümmert. Niemand rief. Niemand lief umher, weder Verletzte noch Sanitäter. Niemand lag herum. Niemand schien hier an diesem Strand zu wohnen … Weiter wollte ich nicht denken. Nicht jetzt.

Ich blinzelte die Tränen in meinen wunden Augen fort. In einiger Entfernung erkannte ich verschwommen das Wrack halb im Wasser, halb am Strand liegen. Der Anblick bohrte sich tief in mein Gedächtnis. Die kleine Maschine, die uns sicher ans nächste Festland hatte bringen sollen. Dünne schwarze Rauchfahnen stiegen von ihr auf, verbreiteten den beißenden Geruch nach Metall, Kerosin und Tod. Ich schluckte. »Gibt es weitere …?« Ich bekam es nicht über die Lippen.

»Überlebende?« Er klang ebenso atemlos, wie ich mich fühlte. Er zögerte, sah stur geradeaus. »Alle, die ich geborgen habe, leben noch.«

»Noch?«, hauchte ich.

Er gab ein undefinierbares Knurren von sich. Ich wollte mir nicht vorstellen, welches Grauen er innerhalb der Maschine vorgefunden hatte, als er nachgesehen hatte, ob er jemanden retten konnte. »Sind noch … Tote im …?«

»Nein. Alle raus. Nur ein Passagier fehlt. Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Okay«, sagte ich unpassenderweise. Okay war überhaupt nichts, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Wie war ich aus dem Flugzeug gekommen? War ich wirklich ins Meer gesprungen, bevor wir die Bruchlandung hingelegt hatten? In meinem Kopf herrschte Leere. Nur die Schreie hallten immerfort. Ich versuchte, sie auszublenden. Nun galt es, an die Überlebenden zu denken, und die Leere schützte mich vor der überwältigenden Erinnerung, die mich sonst wohl zerquetscht hätte. Ellie. Denk an Ellie!

Ich wandte mich von dem schwarz verkohlten Rumpf ab, dessen eine Tragfläche zur Seite weggeknickt hing, als wäre der Flügel nach hinten weggebrochen. Rasch sah ich mich nach Ellie um. Ich brauchte etwas zu tun, um nicht nachdenken zu müssen. Sofort erblickte ich ein orangefarbenes Etwas im tiefen Schatten der ersten Bäume, in dem Ellie lag. Ein Schlauchboot?

Jayden strauchelte im tieferen Sand. Seine Arme legten sich schraubstockartig um mich, hielten mich fest an sich gedrückt. Nach einigen unsicheren Schritten, die ihm die Luft aus den Lungen drückten, fing er sich. Sein Körper zitterte. Schweiß lief ihm über das Gesicht, vermischte sich mit seinem Blut. Er kniff die Augen zusammen und schleuderte unwirsch den Kopf zur Seite, um die verklebten Haare und alles andere Störende aus den Augen zu bekommen. Er war eindeutig schwerer verletzt, als er zugeben wollte.

»Lassen Sie mich runter. Ich kann selbst laufen.«

Er grunzte mit verbissenem Mund und stapfte weiter.

»Jayden, wenn Sie mich nicht sofort runterlassen, werde ich …« Natürlich fiel mir in dem Moment nichts außerordentlich Bedrohliches ein, um ihn zu überreden, seine Schwäche zuzugeben. Er reagierte nicht einmal.

Ich nahm meinen linken Arm von seinem verschwitzten Nacken und strich ihm die feuchten Haare aus der Stirn, das Blut von dem Auge. Er blieb stehen. Blinzelte. Blickte mich an. Es sah aus, als brauchte er eine Weile, um seinen Blick scharf zu stellen. Blau. Seine Iris glänzten nachthimmelblau. Dunkler als Königsblau, aber leuchtender als ein Schwarzblau. Eindringlich, atemraubend und beruhigend. Doch kurz flackerte ein verlorener Ausdruck in ihnen auf, der mir mehr als alles andere heute bereits Passierte Angst einjagte.

»Ich bringe Sie zu Ihrer Freundin und dem Piloten in den Schatten. Dort ist auch Trinkwasser. Sie müssen viel trinken. Ellie auch.« Seine Stimme glich eher einem Knurren. Anordnungen an sich und mich.

Jayden ging langsam und beherrscht weiter durch den weichen, auf alle Fälle sehr heißen Sand.

Endlich erreichten wir den kühlen Schatten der ersten Bäume und Palmen. Jayden schien ebenso aufzuseufzen wie ich, obwohl er keinen Ton außer einem leichten Schnaufen von sich gab. Ellie schlief auf der Seite liegend in dem Schlauchboot. Die Füße lagen hochgebettet. Ihr Kopf war mit einem dicken Verband umwickelt, ebenso ihr linkes Handgelenk und beide Knie. Das einst hellgelbe Sommerkleid hing in Fetzen von ihrem zierlichen Körper, offenbarte viele Stellen, die gesäubert und desinfiziert werden mussten. Der Pilot lag neben Ellie und sah noch schlimmer aus. Brandblasen überzogen seine Haut. Ich schluckte. Mit einem Blick checkte ich, dass mein Shirt und meine Dreivierteljeans pitschnass, aber beinahe heil geblieben waren. Zum Glück war ich jemand, der nie hysterisch reagierte, auch wenn ich mich zugegebenermaßen noch niemals in solch einer erschreckenden Situation befunden hatte. Wenn wirklich einmal Not am Mann war, übernahm mein Instinkt und ließ die zurückhaltende, stille Frau in den Hintergrund treten und tat, was getan werden musste. Auch wenn mir dies im Alltag noch nie genutzt hatte, gab es doch etwas, auf das ich stolz sein konnte.

Jayden beugte sich vor und ließ mich vorsichtig vor dem Schlauchboot hinab. Meine Füße kribbelten, wollten mich nicht sofort sicher stehen lassen. Er hielt mich fest umarmt, ließ mich seine Stärke spüren, bis das Zittern meiner Beine verebbte und ich einige Schritte gemacht hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er keine Schuhe trug. Auch an einem Bein hatte er geblutet, die Jeans war ab dem Knöchel dunkel verfärbt. Um ihn würde ich mich später kümmern.

»Danke.« Ich seufzte und kniete mich vor Ellies Gesicht auf den Boden, um sie zu untersuchen. »Ellie? Liebes, wach auf. Alles ist gut. Sag doch was. Wie geht es dir?« Ich versuchte es immer wieder, doch leider reagierte sie ebenso wenig wie der Pilot. Sie schliefen nicht nur.

»Es ist gut, dass sie bewusstlos sind.«

Ich hatte Jayden völlig vergessen. Er stand immer noch hinter mir. Hatte er mich beobachtet?

»Hier.« Er reichte mir eine kleine Flasche, als ich mich zu ihm umwandte. »Ich kümmere mich gleich um Ihren Arm. Trinken Sie.«

Ich nahm die Flasche entgegen, musterte ihn. »Warum?«

»Damit Sie nicht dehy…«

»Ich meine, warum ist es gut, dass Ellie bewusstlos ist?«

Sein Kiefer mahlte. Er überlegte, ob er mir die Wahrheit sagen sollte, das war offensichtlich, deshalb reckte ich das Kinn.

»Sie hat vielleicht innere Quetschungen, und wir haben leider keine Schmerzmittel, die ihr helfen würden.«

Ich atmete zittrig aus, betrachtete Ellies fast sauberes Gesicht. Hatte er es notdürftig gereinigt? Erst jetzt registrierte ich, dass er sie in die stabile Seitenlage gelegt hatte. Ich sah zu ihm auf. »Wie kommen Sie darauf?«

Er wischte sich etwas zu stürmisch, um cool zu wirken, über die blutverschmierte Augenpartie, die ihm mehr denn je einen animalischen Zug verlieh. Mit zwei Schritten kniete er neben mir und hob Ellies Kleid über ihrem Bauch an. Eine Prellung zog sich von ihrer Seite bis zum Bauchnabel. Ich sog scharf Luft ein.

»Wir können nur hoffen, dass weder die Milz noch die Leber etwas durch Rippenfrakturen abbekommen haben.« Er zeigte auf ihren Mund. »Sie hat Blut ausgehustet. Könnte eine Lungenverletzung sein.« Jetzt, wo er es sagte, sah ich die wenigen dunkelroten Spritzer ebenfalls. Ein eiskalter Schauder überlief mich. »Achten Sie bei beiden auf die Atmung und den Puls. Solange sie schlafen, haben sie keine Schmerzen. Überleben werden beide, keine Sorge. Menschen überstehen Schlimmeres. Und jetzt geben Sie mir Ihren Arm.«

Jayden entnahm einem Erste-Hilfe-Koffer, der im Schlauchboot lag, einen eingerollten Verband und zog das Plastik ab. Dabei sah ich den Verband, der um sein linkes Handgelenk gewickelt war, zum ersten Mal. Er führte ein dünnes Plastikbrett unter meinen in Schonstellung gehaltenen Arm und wickelte die lange Bandage sorgfältig und fest um die Schiene und meinen Bruch. Ich biss die Zähne zusammen.

»Wie fühlen Sie sich? Ist Ihnen schwummrig?«

»Geht so«, antwortete ich unbestimmt, weil er so gut riet. »Wohnt jemand auf dieser Insel?«

»Hm.« Er riss das Ende des Verbands in zwei Streifen.

»Das heißt dann wohl Nein.«

»Das heißt nur, dass ich weiß, dass es in diesem Gebiet bewohnte und unbewohnte Inseln gibt. Auf den besiedelten sind überall Menschen, Strandkörbe, Stege, Papierkörbe, Hotels … Fußabdrücke.«

»Verstehe«, murmelte ich. Jayden zog die Schlaufe stramm und prüfte den Sitz der Schiene. Woher hatte er das Brett?

»Drückt es?«

»Nein, so ist’s viel besser. Danke«, sagte ich. Schon wieder. Er erhob sich schwerfällig. »Woher wissen Sie so viel über Knochenbrüche und innere Verletzungen?«

Jayden verzog keine Miene, zeigte nur auf die Wasserflasche. »Trinken Sie.« Er beugte sich vor, nahm den Erste-Hilfe-Koffer und entfernte sich einige Schritte bis zu einem größeren Baum.

Dann eben nicht. Ich öffnete vorsichtig den Verschluss der Flasche und überlegte, wie ich Ellie am besten Wasser eintröpfeln konnte, ohne etwas zu verschütten. Bewegen wollte ich sie keinesfalls, vor allem nicht den Kopf, unter dem eine aufgeblasene Schwimmweste als Stütze lag. Gar nicht so übel. Schließlich trank ich zuerst einige erlösende Schlucke, um Ellie und dem Piloten danach mit einem geknickten Blatt Tropfen für Tropfen einzuflößen.

Ein herzerweichendes Wimmern ließ mich in meiner konzentrierten Arbeit zusammenzucken und aufhorchen. Die Sonne verlor an Kraft, tauchte schräg am Himmel stehend den nahen Wald in mystisches Licht. Ich hatte ihren Untergang nicht bemerkt. Keine Rettung war bisher eingetroffen. Warum?

Ich erhob mich mühsam. Trotz der Tablette schmerzte jede innere und äußere Stelle meines Körpers. Von meinem Kopf und ruhelosen Gedanken ganz zu schweigen. Wo war Jayden? Hatte er sich nicht an dem Baumstamm dort drüben ausgeruht? Es wurde Zeit, auch ihm zu helfen. Ich ging achtsam über den mit Palmenresten übersäten Sandboden, bis ich ihn hinter dem Baum kniend entdeckte. Sein Anblick trieb mir augenblicklich Tränen in die Augen.

Er hatte sich das T-Shirt ausgezogen, in Streifen gerissen und es an verschiedenen Stellen seines Körpers als Verband verwendet. Sein Rücken glänzte nass vor Schweiß. Nicht aufgrund der Temperatur, denn es waren jetzt vielleicht angenehme sechsundzwanzig Grad, sondern wohl vor Schmerz. Er hatte sich ein Stück seines Shirts als Knebel in den Mund gesteckt. Ob erst jetzt, oder als er sich selbst die Haare um die Platzwunde am Kopf herum geschnitten oder rasiert hatte, wusste ich nicht. Wie in Trance beobachtete ich, wie er immer wieder Wasser mit einer Trinkflasche aus einem Eimer schöpfte und über die Wunde schüttete. Salzwasser! Er neigte sich weit vor, damit das Wasser-Blut-Dreck-Gemisch über seine Stirn ablaufen konnte. Zum Glück konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Der Kerl musste eine unmenschliche Qual durchstehen. Warum tat er das bloß? In wenigen Stunden würde man uns gefunden haben und uns professionell in einem Krankenhaus versorgen. Allerspätestens morgen früh würden die Suchtrupps auftauchen.

Jayden richtete sich auf, streckte den Rücken. Jeder einzelne Muskel trat hervor. Er biss fester in den Knebel. Was hatte er vor? Und was hatte er da in der linken Hand? Mit der anderen holte er ein Fläschchen hervor, öffnete es und neigte den Kopf nur leicht, als würde er die Augen schließen und beten wollen. Er hob die kleine Flasche an und schüttete sich etwas in die Kopfwunde.

Ein kehliges Stöhnen drang wie ein dunkler Hilferuf durch den Stoff des Knebels. Ich erstarrte. Jaydens Körper zuckte mehrfach wie unter Stromstößen leidend, dann kippte er zur Seite weg. Äste barsten, und ich meinte, die Erschütterung des Bodens zu spüren. So ein Geräusch machte wohl nur ein Mammutbaum, wenn er nach zähem Kampf gegen modernste Kettensägen der unbesiegbaren Übermacht endlich nachgab und mit einem niederschmetternden Donnern für immer gefällt zu Boden krachte.

»Jayden!« Ich humpelte zu ihm. Er lag beinahe lang ausgestreckt auf dem Bauch. »Jayden?« Ich befreite ihn von dem Knebel. Zu meinem Entsetzen erwachte er nicht. »Jayden, verdammt! Das geht so nicht. Du kannst mich doch nicht allein lassen!« Ich drehte seinen Kopf seitlich, sodass er trotz Bauchlage gut Luft bekam. Groß bewegen konnte ich den kräftigen Mann nicht. Außerdem lag er im Schatten genau richtig, damit die fürchterliche Kopfwunde trocknen konnte und nicht mit Sand in Berührung kam. Hatte er sich das vorab überlegt?

Mein Blick glitt über den rechten tätowierten Arm. Er hielt etwas in der Hand. Ich schnaufte. Der Kerl war unglaublich. Er hatte seinen Daumen in das Fläschchen mit der Aufschrift Povidon-Iod gedrückt, damit es nicht auslief, wenn er ohnmächtig wurde. Umsichtig entwand ich es seinen Fingern und verschloss das Desinfektionsmittel. Ich atmete tief durch, vertrieb mein Schwindelgefühl und suchte die nahe Umgebung nach dem Erste-Hilfe-Koffer ab. Ich würde mich um seine Wunden kümmern, so, wie er sich um Ellies, die des Piloten und meine gekümmert hatte. Ich war echt glimpflich davongekommen, wenn ich mir seinen Körper näher betrachtete. Dass er nun unfreiwillig schlief, war gut, freiwillig hätte er sich seiner Erschöpfung und den Verletzungen nicht ergeben. Was er wohl beruflich tat, so gut in Form, wie er war?

Ich überprüfte bei beiden Atmung und den Puls, holte den Koffer und betrachtete Jayden zum ersten Mal in Ruhe. Unter anderen Umständen läge hier ein Traum von einem Mann nur in Jeans bäuchlings vor mir im Sand. Hm … Seine leicht gebräunte Haut lud zum Anfassen ein. So ein Prachtexemplar musste Frau verstecken. Am besten unter der Bettdecke. Ein Umhängeschild »Angucken, aber nicht anfassen«, hielt sicher kaum ein weibliches Individuum ab, sich ihm mit Hüftschwung und Augenaufschlag bis auf Hautkontakt zu nähern. Seine kräftigen, aber nicht zu muskelbepackten Arme gefielen mir am besten. Neben seinen strammen Pobacken, den langen, starken Beinen und dem leicht v-förmigen Rücken. Nun gut, sein schwarzes Strubbelhaar gefiel mir auch, verlieh ihm einen wilden Touch, der ihn wahrscheinlich jünger machte, als er war. Schwer zu raten, wenn man nur die leckere Rückseite sah. Mitte bis Ende zwanzig. Genau das richtige Alter zum … für … Na, egal. Genau richtig eben. Sobald wir gerettet worden und alle inneren und äußeren Verletzungen verheilt waren, würde ich mich an diesen Anblick eines echten Mannes gern zurückerinnern und weiterträumen. Ein Traum ohne Angst und ohne Schmerz.

Jaydens linker Arm lag unter seinem schweren Oberkörper begraben, was sicherlich nicht so von ihm gewollt gewesen war. Er würde ihm gefühlt abfallen, wenn er erst in einigen Stunden erwachte. Außerdem tat dies der Wunde nicht gut, die er am Handgelenk hatte. Ich mühte mich eine Weile ab, stemmte mich in den Sand, bis ich, einarmig, wie ich war, seinen muskulösen Arm endlich unter ihm befreit hatte.

Entsetzt zuckte ich zurück. Der Verband war verrutscht. An seinem linken Handgelenk hing ein silbriger Armreif mit einer kurzen, stählernen Kette.

Eine gekappte Handschelle.

»Himmelherrgott noch mal!« Ich sprang auf. Blieb erst einmal eine Weile zitternd vor dem bewusstlosen Mann stehen.

Was hatte dieser Mist denn jetzt zu bedeuten? War Jayden Parker ein entflohener Verbrecher? Ein Häftling? Einer, der sich gegen jeden anderen zur Wehr setzen konnte? Einer, der vor nichts zurückschreckte? Hatte er das Flugzeug zum Absturz gebracht, um fliehen zu können? Meine Gedanken überschlugen sich. Nein, dann wäre er längst über alle Berge. Obwohl … dafür war er vielleicht zu schwer verletzt.

Und warum hatte er uns geholfen? Brauchte er uns als Geiseln? Ich fuhr mir mit der unverletzten Hand durchs verfilzte lange Haar, fixierte abwechselnd ihn und meinen Verband. Ein Blick zurück zu Ellie und dem Piloten bestätigte mich in meiner noch dünnen Entscheidung. Diese Handschelle bedeutete nur, dass er einiges zu erklären hatte, wenn er erwachte, und dass ich ihm gegenüber weitaus vorsichtiger sein würde als in den vergangenen Stunden. Betrachtete man seinen trainierten Körper mit der Tätowierung aus einem anderen als dem Lippen leckenden, weiblichen Blickwinkel und nahm sein Wissen über scheußliche Verletzungen hinzu, seine Wortkargheit, so könnte er mir vielleicht trotz seiner vorherigen Umsicht mit dem kleinen Finger das Licht ausknipsen, wenn es für ihn vonnöten wäre.

War es wohl doch gewollt gewesen, dass sein Arm unter ihm blickgeschützt zu liegen kam. Himmel, was hatte er noch alles so gut im Voraus geplant? Ich musste vorsichtig sein, doch ihn gegen mich und Ellie aufzubringen, brachte nichts. Im Gegenteil, es erhöhte das Risiko, dass er uns etwas antat. Wenn morgen früh die Rettungskräfte … Ja, wenn!

Was, wenn nicht?

Ich setzte mich, weil meine Beine versagen wollten. Die Dämmerung nahte. Zwischen den Bäumen umhüllte mich bereits bedrückendes Zwielicht. Ich war kein Angsthase, aber auf einer Insel festzusitzen, nur mit einem entflohenen Verbrecher, einer vielleicht sterbenden Freundin und einem schwer verletzten Piloten durfte einem schon Furcht einjagen.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Jayden lag ruhig atmend im warmen Sand. Ich hatte eine Scheißangst, aber ich brauchte ein paar Antworten. Und das am besten jetzt. Bevor es stockdunkel war. Bevor er wieder erwachte.

Ich mühte mich auf, ließ Jayden Jayden sein und untersuchte Ellie und den Piloten nochmals gründlich. Nachdem ich beiden etwas Wasser eingeflößt, für sie gebetet und selbst einen Schluck genommen hatte, weil mich mein Hals und mein Durst inzwischen halb umbrachten, marschierte ich über den Strand schnurstracks zum Flugzeug. ...