Schicksal des Blutes

Night Sky 3


Trilogie - Band III


Gewidmet all denen,
die lieben …


San Francisco – Kalifornien – 1. Mai

Amy Evans träumte.
Es musste ein Traum sein, denn zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit empfand sie keinerlei Schmerz. Die körperlichen Qualen schienen vorüber und auch ihre Seelenpein schwand, als sich ein zärtlicher Schleier ausGeborgenheit über sie senkte. Eine silbrig weiße Wolke hüllte sie behaglich ein. Sehnsucht erfüllte sie.
War sie im Himmel? Starb sie?
Wenn dies der Tod war, wollte sie wahrhaftig tot sein.
Engelschwingen hoben sie an eine breite, warme Brust, unter der ein gütiges Herz pochte. Amy fühlte sich wie eine Feder, frei und leicht, getragen und beschützt von kräftigen Armen, die sie wie in Abrahams Schoß betteten. Vertrauen durchrieselte sie.
Die wohlige Wärme ihres Körpers erhitzte sich zu einem heißblütigen Begehren, als zärtliche Finger ihre nackten Rundungen erkundeten und ohne Scheu ihre intimsten Stellen liebkosten. Die Intensität raubte ihr den Atem, den sie anscheinend nicht mehr benötigte. Der Himmel auf Erden.
Amy ließ die Augen geschlossen, gab sich den überirdischen Gefühlen hin, schwebte und genoss glücklich die Sicherheit der Liebe dieses göttlichen Mannes.

***

Ny’lane Bavarro atmete tief durch, als die schwere Standuhr in Amys Penthouse Mitternacht schlug. Der erste Gong des alten Westminsterschlags ging in einem markerschütternden Donnergrollen unter, das gewaltig über San Francisco hinwegfegte,und totale Finsternis zurückließ. Timothy zündete eine Kerze an. Ein Blitz zuckte nieder, erhellte den gepeitschten Starkregen hinter den Panoramascheiben. Das verdammte Gebäude erzitterte wie bei einem Erdbeben. Nyl packte eine Säule aus weiß geädertem Naxos-Marmor, während sich Jonas, Cira und Samantha bei den Händen nahmen, um sich als Sternträger ihrer Aufgabe zu widmen. Es entsprach tatsächlich der Wahrheit – der gefallene Engel Nephilim betrat mit seiner rachegeschürten Allmacht die Erde. Das angekündigte und befürchtete Chaos brach aus.
Ein Stromstoß jagte wie ein Blitzeinschlag durch Nyls Kopf bis in die Fußsohlen. Gleichzeitig entwich ihm ein Entsetzensschrei. Die Fäuste auf die Brust gequetscht, die schmerzte, als risse ihm jemand das Herz hinaus, rannte er wie vom Teufel verfolgt los.
Er hatte sich täuschen lassen!
Nyl rammte die Schlafzimmertür aus den Angeln. Er verengte die Augen zu einem schmalen Schlitz, schickte all seine Energie in den Sehsinn und starrte einen zeitlupenartigen Moment auf Amy.
Ihr langes Haar lockte sich wie ein Fächer um ihr selig lächelndes Gesicht. Das dunkle Kaffeebraun bildete einen beinahe schmerzlichen Kontrast zu ihrer blassen Haut und dem weißen Kopfkissen. Ihre wundersam herzförmigen und voluminösen Lippen wiesen eine gräuliche Färbung auf. Ihre Lider mit den langen, schwarzen Wimpern waren friedlich geschlossen. Sie zitterten nicht, weil Amy nicht mehr träumte, Fieber und Schüttelfrost vergangen waren. Amy schlief nicht, weil sie nicht mehr erschöpft war. Sie war tot.
Ny’lane taumelte vor, ergriff einen Bettpfosten. Protestierend knirschte dieser unter seiner Kraft, doch Nyl lauschte nur nach ihrem Herzschlag, dessen Fehlen ihm trotz des Getöses der Naturgewalten sofort aufgefallen war.
„Ich habe mich geirrt …“
Der Dämon, der Amys Lebenskraft aussaugte, hatte ihren Körper nicht verlassen. Die Ausgeburt der Hölle hatte sich nur aus ihren Gedanken zurückgezogen – bis vor einigen Sekunden. Als Amy starb, schleuderte es die Dämonin hinaus.
Nyl riss die Bettdecke fort, holte aus und schlug Amy auf den Brustkorb.
„Er bringt sie um!“, kreischte Cira plötzlich hinter ihm und packte ihn mit ihrer neu gewonnenen vampirischen Kraft.
Nyl wandte sich nicht um, stieß nur ein warnendes Knurren aus. „Sie ist bereits tot!“
Seine Aggressivität hätte ihn erschreckt, wenn er bei Sinnen gewesen wäre, doch das war er nicht. Er war außer sich vor Panik.
„Engel, lass ihn“, sagte Jonas und Ciras Hände lösten sich von seinen Schultern.
Nyl machte stoisch mit der Herzdruckmassage und der Beatmung weiter. Sein Körper brannte vor Qual, als hätte er den Alkohol in seinem Blut angezündet. Flüche hallten in seinem Schädel wider, doch der Druck auf ihr Herz blieb klar bemessen. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Gedanklich verfluchte er sich für seinen Fehler, gleichzeitig schrie er Amy an, sie müsse atmen.
Wie auf eine unsichtbare Mauer geprallt, hielt er inne. Er zog seine zitternden Hände an den Magen, der sich im Schleudergang drehte. Amys Herz pochte wieder.
Nyl stand auf, versuchte, den schwankenden Boden auszugleichen. Oder schwankte er? Whiskey kam ihm mit Magensäure hoch. Er warf einen Blick auf Amy, vernahm ihren schwachen, aber regelmäßigen Puls, sah das Auf und Ab ihres Brustkorbs, der ihre Brüste unter dem Pyjamaoberteil hob und senkte, witterte, dass er sie bis auf ein paar Quetschungen unterhalb der Haut nicht verletzt hatte. Ihre Gedanken glitten wie die eines normalen Menschen umher, als träumte sie etwas Schönes, aber Verwirrendes.
Gott, wie hatte er sich nur täuschen lassen können? Der Dämon musste von seiner Gabe, die Gedanken anderer lesen zu können, wissen. Obwohl niemand außer Jonas davon Kenntnis besaß. Diese teuflische Lilith hatte Amy nur wegen seines Versagens getötet. Ihre zarte, menschliche Lebenskraft aufgezehrt, sie skrupellos gequält, ohne ihr eine Chance zu lassen.
Nyl wandte sich zur Schlafzimmertür und begann zu laufen. Er stieß jeden beiseite, der nicht rechtzeitig auswich und floh, bevor er sich vor Amy übergab, hinaus in das verheerende Wetterchaos, das seinen inneren Aufruhr widerspiegelte.
Seine schweren Stiefel ertranken in Regenpfützen, Wasser spritzte empor und sein nasser Ledermantel schlug ihm im schnellen Lauf gegen die Knie, als wollte er ihn zu Fall bringen. Dicke Tropfen peitschten ihm beinahe waagerecht ins Gesicht. Es fühlte sich an wie ein Sturzbach von Tränen. Das Unwetter hatte die Nachtaktiven von den sonst belebten Straßen San Franciscos verscheucht und bis auf die ständigen Blitze erhellte kaum etwas die beengende Finsternis. Mattes Flackerlicht huschte über seine schwarze Gestalt. Er war versucht, anzuhalten und umzukehren. Doch er war ein Geächteter und Amys Herz war ihm für immer versperrt. Er rannte weiter.
Das Keuchen unterdrückend kniete Ny’lane ein wenig später auf harten Steinstufen und lauschte dem zornigen Prasseln auf dem Kirchendach, das seinem Herzschlag glich. Er neigte den Oberkörper nach vorn, um den Schmerz in seiner Brust zu zerquetschen
und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Man kannte ihn hier, aber sicherlich nicht in solch einem Zustand. Die Zuflucht suchenden Gläubigen warfen ihm scheue Blicke zu. Doch es war ihm egal, welches Bild er abgab, daran konnte er momentan nichts ändern. Irgendetwas hatte ihnhierher geführt, förmlich gezerrt, ihm jede Chance verwehrt, sich auf sein Schiff, die ‚Silver Angel‘, zu verkriechen, um sich so gnadenlos die Kante zu geben, dass er nie mehr aufstand.
Finger einer menschlichen Hand berührten fast unmerklich seinen kahlen Schädel.
Er zuckte zusammen, obwohl er sie erwartet, ja sogar herbeigesehnt hatte.
„Dóminus vobíscum.“
„Et cum spíritu tuo.“ Nyl flüsterte heiser die Antworten zum sakralen Singsang, doch sogar der Segen verschaffte ihm keine Erleichterung. Er hatte es so sehr gehofft.
Seit er vor einem Monat die Fahrertür von Amys Mini aufgerissen und ihr in die erschreckten Augen geblickt hatte, war er äußerst schlecht darin geworden, seine Gefühle unter Verschluss zu halten. Er soff wie ein Fass ohne Boden. Es war ihm egal, ob es Alkohol oder weibliches Blut war, egal, ob eine Pennerin oder eine beschissene königliche Reinblüterin. Egal, ob er sich benahm wie ein …
„Erhebe dich, mein Sohn.“
Nyl kniff die Lider hinter der Sonnenbrille zusammen. Seine Netzhäute brannten, in seinem Schädel zog eine Marschkapelle ihre Kreise. Er zwang seine Fänge zurück in
den Kiefer und erhob sich vorsichtig, indem er zuerst den Kopf, dann den Oberkörper hob und aufstand. Seine übermenschlichen Kräfte schienen mit Amys Beinahetod abhandengekommen zu sein. Er überragte den schmächtigen Priester um fast zwei Köpfe, doch noch nie war der Zwerg vor ihm zurückgewichen oder hatte ihm ängstlich ins Gesicht geblickt. Er beneidete den Mann Gottes um seinen Glauben, auf den auch er sich einst verlassen hatte.
Neid! Er verlor immer mehr die Kontrolle über sich. Und das lag nur an Amy! Er hatte sich so gut im Griff gehabt.
Ny’lane bedankte sich wortlos mit einem kurzen Nicken beim Priester und verließ die Kirche. Draußen legte er den Kopf in den Nacken, reckte knurrend die Fäuste dem
tobenden Sturm entgegen und ergab sich seinem Sehnen. Schneller als er sich gewahr wurde, was er wieder tat, lag er mit seinem Whiskeyvorrat in irgendeinem der vielen Schlafzimmer seiner 70 Yards langen Motorjacht ‚Silver Angel‘ und trank sich ins Koma.
Er hätte sich niemals dazu hinreißen lassen dürfen, Amys Blut zu probieren …